„Danebengegangen?“ Stefan Zweigs Erzählung „Widerstand der Wirklichkeit“
Vortrag von Gregor Thuswaldner
Über seine posthum veröffentliche Erzählung Widerstand der Wirklichkeit, die unter dem Titel Die Reise in die Vergangenheit in jüngerer Zeit Dank einer französischen Übersetzung, einer internationalen Verfilmung und eines Erzählbandes mit dem Titel Die Reise in die Vergangenheit und andere Erzählungen eine größere Aufmerksamkeit erreichte, war Zweig wenig glücklich. Einmal meinte er sogar in einem Brief, dass ihm diese Erzählung „danebengegangen“ sei. Besonders mit dem melodramatischen Ende war er unzufrieden.
In dem von der Forschung bisher nur wenig wahrgenommenen Text setzt sich Zweig mit der Dialektik von Erinnerung und Erkenntnis auseinander. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Ludwig und seine nicht beim Namen genannte Geliebte. Die unkonsumierte Liebesbeziehung wird von einer Auslandsarbeit Ludwigs in Mexiko und dem kurz darauf ausbrechenden Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen, bevor diese hätte körperlich werden können. Nach dem Ende des Krieges sehen sich Ludwig und seine frühere Geliebte wieder. Wie verhalten sich Erinnerung und Gegenwart zueinander? Können sich Erinnerung und Gegenwart bei zwei früheren Geliebten überhaupt decken? Der Psychologe Zweig verhandelt in Widerstand der Wirklichkeit Themen, die er in seiner Novelle Verwirrung der Gefühle und die Erzählung Vergessene Träume glaubwürdiger bearbeitet. Dieser Vortrag versucht Zweigs Arbeit Widerstand der Wirklichkeit kritisch zu würdigen.
Gregor Thuswaldner ist Provost (Vizerektor) und Executive Vice President an der Whitworth University in Spokane, Washington, USA.
© Gregor Thuswaldner